Im Fokus der Jury des
Theaterpreis Hamburg – Rolf Mares
November 2024
Jedes Jahr im Herbst wird der Theaterpreis Hamburg – Rolf Mares für herausragende Leistungen in der vergangenen Spielzeit in unterschiedlichen Kategorien verliehen. Die Theaterpreis-Jury, bestehend aus Dr. Inge Volk, Jan Peter Gehrckens, Patrick Giese, Christian Hanke, Gunter Mieruch, Maike Schäfer und Elke Westphal, ist deshalb in der laufenden Spielzeit fleißig in den Häusern der Stadt unterwegs, um die nächsten Preisträger*innen zu finden. Ab und an lassen sie sich über die Schulter blicken und verraten, welche Stücke sie in den Fokus genommen haben.
Jekyll und Hyde am Imperial Theater
London 1887. Der junge Arzt Dr. Henry Jekyll glaubt nicht an die strengen Tugend- und Moralvorstellungen des Viktorianischen Zeitalters und experimentiert heimlich mit einem Serum, mit welchem er das Gute vom Bösen trennen möchte. In einem Selbstversuch testet er das persönlichkeitsverändernde Mittel. Jedoch mit verheerender Wirkung! Es verwandelt den sanftmütigen und ausgeglichenen Dr. Jekyll in den monströsen Mr. Hyde, einen aggressiven Sittenstrolch und Gewaltverbrecher. Als er erkennt zu welchen grausamen Taten das Monster Hyde fähig ist, will er ihn für immer aus seinem Körper verbannen. Doch es ist längst zu spät. Dr. Jekyll hat die Kontrolle über ihn bereits verloren …
Maria Stuart am Allee Theater – Hamburger Kammeroper
Maria Stuart, Königin von Schottland, wird von ihrer Verwandten, Königin Elisabeth I. von England, gefangen gehalten. Elisabeth sieht in Maria nicht nur eine Bedrohung für ihre Herrschaft, sondern auch eine starke Rivalin um die Liebe des Grafen Leicester. Bei einem Zusammentreffen der beiden Monarchinnen spitzt sich der Konflikt dramatisch zu. Als Elisabeth – zerfressen von Eifersucht und Verzweiflung – Marias Todesurteil unterschreibt, schließt die schottische Königin mit ihrer Vergangenheit ab und geht als Märtyrerin in den Tod. Im Vergleich zur Dramenvorlage von Friedrich Schiller rückt Gaetano Donizetti die persönlichen Aspekte sowie die inneren Konflikte der rivalisierenden Herrscherinnen deutlich stärker in den Fokus. Seit ihrer erfolgreichen Wiederentdeckung 1958 zählt die Oper über den Kampf der beiden Königinnen zu den unsterblichen Glanzstücken des italienischen Belcanto-Repertoires und ist von den Opernbühnen auf der ganzen Welt nicht mehr wegzudenken.
Macbeth an den Hamburger Kammerspielen
Shakespeares wohl berühmtester „Höllenritt“, das so genannte „Scottish-Play“, wird hier verdichtet auf zwei Personen und auf seinen Glutkern: Macbeth und seine Lady Macbeth träumen nicht bloß vom Griff nach der schottischen Königskrone und der uneingeschränkten Macht, seitdem ihnen diese verheißungsvoll von übernatürlichen Mächten eingeflüstert wurde – sie setzen ihre Pläne grausam in die Tat um, bis sie über ihren eigenen Ehrgeiz und ihre Hybris ins Bodenlose stürzen. John von Düffel hat Macbeth als konzentriertes, dichtes, psychologisches Kammerspiel entworfen. Es ist zugleich politischer Thriller und die eindringliche Beleuchtung einer komplexen Paarbeziehung. Die bestechende Suggestivkraft der Sprache entwickelt eine Sogwirkung, der man sich nicht mehr entziehen kann.
Barrrbie ein Puppenheim am Thalia in der Gaußstraße
Barbies Welt ist rosarot – es gibt keine Krankheiten, keine Kriege, keine Krisen. Jedes Rädchen schmiegt sich an das nächste und gemeinsam drehen sie an der allgegenwärtigen Perfektion. Alles ist einfach fantastic, oder? In seiner Überschreibung von „Nora. Ein Puppenheim“ verlegt Emre Akal die Handlung von Ibsens Drama in die Welt von Barbie und Ken. Wie wäre Nora-Barbie? Wie würde sie sich schlagen in einer Realität, in der sich alles um ihren Mann Ken aka Helmer dreht? Als Barbie ist sie erfolgreich, talentiert und strahlend gesund - sie lebt in einer Traumwelt. Noras Wirklichkeit, diese Abhängigkeit von einem omnipräsenten Ehemann, muss ein Alptraum für sie sein.
The King‘s Speech – Die Rede des Königs am kleinen hoftheater
Bewegendes und pointiertes Drama über King George VI, den Vater von Königin Elizabeth II., der sich an den exzentrischen Sprachtherapeuten Lionel Logue wendet, um Herr über sein unkontrollierbares Stottern zu werden. Die Annäherung zwischen dem unverblümten Logue und dem reservierten Monarchen gestaltet sich schwierig. Wenn Albert seine Pflicht als neuer König erfüllen will, muss er lernen, öffentlich zu sprechen. Der Weg ist steinig bis zu seiner wohl wichtigsten Rundfunkansprache. Vorbereitet und unterstützt durch Logue, der ihm ein echter Freund geworden ist, legt er seinem Volk einfühlsam und fehlerfrei die moralischen Gründe dafür dar, dass das britische Empire Deutschland den Krieg erklären muss.
So könnte unsere Zukunft aussehen: Mutter Ottilie kocht der Umwelt zuliebe mit enthusiastischer Inbrunst nur noch frittierte Heuschrecken und Mehlwurm-Burger, während ihr Sohn als Insektologe – mit potentiell fatalen Folgen – von einer Zecke heimgesucht wird und ihre Tochter sich die einsamen Tage mit ihrer riesigen Tigerpython vertreibt, in der Hoffnung, endlich Schwung in die Karriere als Influencerin zu bringen. Dass die klimaökologische Gesamtlage sich unaufhaltsam zuspitzt, hält ihren Mann nicht davon ab, immer gut gelaunt als Bacardí-Markenbotschafter das ganze Land mit Partys zu versorgen, bei denen man das Desaster mit Fleiß niedertrinken kann. Natürlich verlässt die Python ihr Terrarium irgendwann… Und draußen? Zu viel Hitze und zu viel Wasser zugleich – alles außer Rand und Band. Diese Gesellschaftssatire ist abgründigwitzig, schonungslos-komisch und voll absurder Ereignisse.
Herr Puntila und sein Knecht Matti am Deutschen SchauSpielHaus
Der Gutsbesitzer Puntila lässt keine Gelegenheit aus, sich dem Alkohol hinzugeben. Unaufhörlich meldet sich der Durst. Betrunken zeigt er sich gesellig und empathisch, macht Versprechungen, führt sein moralisches Gewissen spazieren, sieht sich als Opfer seiner Rolle, wirbt bei seinen Untergebenen um Verständnis für seine Besitzverhältnisse und die Macht, die daraus resultiert. Wie gerne wäre er ein anderer. Wie gerne verhielte er sich menschlich, wäre wie Matti, sein Chauffeur, dem er jedoch in nüchternem Zustand keinerlei Rechte zuspricht – zumal dieser ein „Roter“ ist, eine drohende Gefahr, einer, der sich organisieren und emanzipieren könnte gegen seinen Herrn. Auch wenn Puntila einem wie ein vorsintflutliches Tier erscheinen mag, tritt es einem erstaunlich vertraut entgegen. Es ist der Blick in die Geschichte, der sich lohne, schreibt Brecht, „weil die Ablagerungen überwundener Epochen in den Seelen der Menschen noch lange liegen bleiben.“ Wie Gespenster tauchen Figuren dieser vergangenen Zeit wieder auf, Gespenster eines welthistorischen Zweikampfs, der für beendet gehalten wurde, Gespenster, die mahnen, dass die monströse Ungleichheit in der Welt auf Dauer nicht zu tragen ist.