Klimakatastrophe, Völkermord und andere drängende Fragen
Nora Hertlein hat zum ersten Mal die Lessingtage am Thalia Theater kuratiert, die vom 18. Januar bis zum 9. Februar laufen.
von Heinrich Oehmsen
Fast die Hälfte ihrer Arbeitszeit verbringt Nora Hertlein auf Reisen. Sie besucht Theaterfestivals, informiert sich an anderen Bühnen über spannende Projekte und sucht in der freien Szene nach außergewöhnlichen Stücken für das Hamburger Publikum. Ein Jahr lang hat die Kuratorin des internationalen Programms am Thalia Theater die kommenden Lessingtage vorbereitet und internationale Gastspiele eingekauft. Wem gehört die Welt? lautet das Motto der Lessingtage, die vom 18. Januar bis zum 9. Februar im Großen Haus am Alstertor und in der kleineren Thalia-Dependance in der Gaußstraße laufen werden. In dieser Frage steckt eine gehörige Portion Kapitalismuskritik. Die Überlegungen von Hertlein und dem Leitungsteam des Theaters gehen aber weit darüber hinaus. Kolonialismus und Postkolonialismus sowie die Umweltproblematik sind Schwerpunkte des diesjährigen Programms.
„Es sind drängende Fragen der Zeit, die zusammenhängen und sich überschneiden. Vor allem die Länder des Globalen Südens werden ausgebeutet, und die Natur ohnehin, bis an die Grenze der Selbstzerstörung des Planeten. Die kapitalistische Ökonomie will immer mehr Wachstum und immer mehr Profit. Das hat katastrophale Folgen auf jede Art natürlichem Gleichgewichts“, erklärt sie.
Innerhalb der kommenden Lessingtage steht mit Hereroland am 19. Januar in der Gaußstraße eine Premiere auf dem Programm, die sich mit der Aufarbeitung deutscher Kolonialgeschichte in Namibia beschäftigt. „Wir wollen ein Stück auf die Bühne bringen, in dem der Genozid an den Herero nicht nur aus deutscher Perspektive erzählt wird. Es wird eine gemeinsame Arbeit von Gernot Grünewald und David Ndjavera, der ein Nachfahre der Herero ist und dessen Familie im Jahr 1904 von dem Völkermord im damaligen Deutsch-Südwestafrika betroffen war. Ein Team des Theaters hat in Afrika recherchiert und Interviews geführt – auch mit deutschen Farmern, die zum Teil mit rassistischen Statements zu Wort kommen. Anschließend haben die deutsche und die namibische Gruppe das Material gesichtet, verdichtet und daraus Szenen geschrieben. Seit drei Wochen sind die Künstler*innen aus Namibia jetzt in Hamburg und proben für die Premiere“, berichtet Hertlein.
Sie selbst hat bei einem Festival in den Niederlanden eine belgische Performance mit dem Titel Reverse Colonialism! gefunden, in der es um eine Utopie geht. Afrikanische Einwanderer*innen, die legal in Europa leben, suchen nach ihrem Platz in der Gesellschaft, und beginnen über ein eigenes Land für „europäische Afrikaner*innen“ nachzudenken. Das Publikum soll bei dieser Einrichtung des neuen Staates helfen, in dem es über die Staatsform, über Religion, Familienpolitik usw. mit entscheidet. „Diese Abstimmung kann den*die aufgeklärte*n, antirassistische*n Europäer*in durchaus in Bedrängnis bringen, weil er in Widersprüche zu seiner Denkweise gerät. Die afrikanischen Performer*innen agieren nicht aus einer dankbaren Opfer-Flüchtlings-Perspektive, sondern aus einer fordernden, selbstbewussten Haltung heraus“, verrät die Programmmacherin.
Verschiedene Aufführungen, Konzerte und Lesungen der kommenden Lessingtage haben den Klimawandel zum Thema wie die Marathon-Lesung der Klima-Trilogie von Thomas Köck am 24. Januar im Nachtasyl. Köck, der für sein dreiteiliges Stück mit dem Mülheimer Dramatikerpreis ausgezeichnet worden ist, erzählt von der Ausbeutung von Mensch und Natur im 21. Jahrhundert.
In der nahen Zukunft, nämlich im Jahr 2025, spielt Arctic, ein Gastspiel aus Belgien, inszeniert von Anne-Cécilie Vandalem. Es ist ein Umwelt-Thriller in der klassischen Form eines Who-dunnit-Krimis, der auf einem Schiff spielt, das nach Grönland schippert. Dort ermöglicht die Eisschmelze nicht nur Massentourismus, durch die bessere Erreichbarkeit Grönlands per Schiff können die dort vorhandenen Rohstoffe wie zum Beispiel Erdöl leichter ausgebeutet werden. Was sich im Inneren des Schiffes abspielt wird von Kameras auf Leinwände projiziert, so dass sich Sprechtheater und Film miteinander verbinden. „Das Stück ist politisch relevant, ästhetisch und narrativ spannend“, sagt Nora Hertlein über diesen Polit-Thriller.
Auch ein paar bekannte Theaterkünstler*innen folgen der Einladung des Thalia Theaters wie der Schweizer Regisseur Milo Rau, der mit Orest in Mossul nach der Orestie von Aischylos nach Hamburg kommt. Seine Inszenierung ist eine Ko-Produktion des NTGent und des Schauspielhauses Bochum. Rau war bereits des Öfteren Gast auf Kampnagel genau wie der französische Regisseur Philippe Quesne, der in der Gaußstraße die Farm Fatale zeigt. Darin finden sich fünf Vogelscheuchen zusammen, die durch die fortschreitende Umweltverschmutzung ihren Job verloren haben und nun Themen wie das Insektensterben und Turbo-Kühe auf sehr humoristische Weise diskutieren.
Spektakulär verspricht auch Die Edda zu werden. Thorleifur Örn Arnarsson hat die nordeuropäische Götter- und Heldengeschichte inszeniert. Das Gastspiel des Wiener Burgtheaters ist die erste Arbeit des isländischen Regisseurs, die in Hamburg zu sehen ist.
Die Eröffnungsrede der Lessingtage hält am 19. Januar die indische Physikerin und Aktivistin Vandana Shiva, die sich seit vielen Jahren für nachhaltige Landwirtschaft einsetzt und Trägerin des alternativen Nobelpreises ist. Seinen Abschluss findet das Festival am 8. Februar mit der „Langen Nacht der Religionen“, die den Titel trägt: „Nach uns die Sintflut? Religionen und Klimawandel“.
Was haben die vielen Veranstaltungen mit Lessing zu tun? Nora Hertleins Antwort ist eindeutig: „Der aufklärerische Geist und die multiperspektivische Herangehensweise. Dem würde Lessing sicher zustimmen.“
Weitere Infos und das komplette Programm gibt es hier zu entdecken.